Zusammenspiel der Realiatete als eines der Hauptprinzipien des Sujetaufbaus im Roman Stiller von Max Frisch
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"Ich sitze in meiner Zelle, Blick gegen die Mauer, und sehe die
Wueste. Beispielsweise die Wueste von Chihuahua. Ich sehe ihre groesse Oede
von bluehender Farben, wo sonst nichts anderes mehr blueht, Farben des
gluehenden Mittags, Farben der Daemmerung, Farben der unsaeglichen Nacht."
(Frisch 1992: 26)
Stiller versucht dem engen und konventionellen Leben in Europa zu
entfliehen und auf dem neuen Kontinent ein freieres Leben zu beginnen.
Allerdings soll diese Deutung eingeschraenkt werden: Sie gilt im "Stiller"
vor allem fuer Mexiko. Was Stiller fasziniert, ist nicht nur die Weite, die
metaphorisch fuer seelische Freiheit steht, sondern auch die
Selbstverstaendlichkeit, mit der die Menschen in Mexiko dem Leben und Tod
gegenueberstehen. Der Erinnerung an den Totentag in Mexiko wird kurz darauf
der Besuch auf dem Friedhof in Zuerich am Grabe der Mutter
gegenuebergestellt: hier die wortlose Hilfslosichkeit zweier Protestanten
gegenueber dem Phaenomen des Todes, dort der selbstverstaendliche Einklang
von Leben und Tod.
" Ich muss […] an den Totentag denken, wie ich ihn auf Janitzio sah, an die indianischen Muetter, wie sie auf den Graebern kauern die ganze
Nacht, alle in ihren festlichen Trachten, sorgsam gekaemmt wie fuer die
Hochzeit, und scheinbar geschieht ueberhaupt nichts, der Friedhof ist eine
Terrasse ueber dem schwarzen See[..], ein Friedhof ohne einen einzigen
Grabstein oder sonst ein Zeichen […], dazu die Teller mit allerlei Speisen, die mit einem sauberen Tuechlein bedeckt ist, vor allem aber das sonderbare
Ding, das mit weihnachtlicher Liebe gebastelt worden ist, ein Gestell aus
Bambus, daran das Gebaeck und Blumen, die Fruechte, das bunte Zuckerzeug."
(Frisch 1992: 319)
"Das Grab der Mutter: - wie Graeber hierzulande eben sind, mit
gestelltem Granit saeuberlich eingefasst, alle etwas zu kurz, so, dass man
den Schrecken hat, den Toten auf den Fuessen zu stehen, dazwischen
Kieswege, immergruen am Rand, in der Mitte des Grabes eine toenerne Vase, ein paar welke Astern drin, hintern dem Stein eine rosige Blechbueckse, um
die Blumen zu begiessen." (Frisch 1992: 324)
Sehr viel kritischer aeussert sich der Tagebuchschreiber ueber New
York. Waehrend der Staatsanwalt von der Rainbow- Bar schwaermt, erzaehlt er
ihm von der Bowery, einem "Viertel, wo auch die Polizei nicht mehr hingeht,
Gefilde der Verlorenen" (Frisch 1992: 176), wo er in einem betrunkenen
Greis seinen Stiefvater zu erkennen glaubt. Hier zeigt sich, dass es
Stiller nicht um die Gesellschaftskritik geht, sondern dass er ueberall
seine persoehnliche Problematik sieht. Dies geht auch vor allem aus der
Schilderung seiner ersten Eindruecke nach der Landung hervor, wo es heisst:
" Ich sah die Praerie, die Schlaechtereien von Chikago, die Mormonen, die Indianer, die groesste Kupfergrube der Welt […]." Und doch verfolgt ihn der Gedanke an seine " grazile Balletteuse". (Frisch 1992: 338)
Diese Stelle im Roman zeugt davon, dass der Ankoemmling, der von
seinem frueheren Leben flieht, seine Identitaet leugnet, trotzdem seine
Vergangenheit mit seiner Gegenwart vergleicht, mit anderen Worten sie nicht
loswird.
2. Die zeitliche Perspektive
Wie gesagt, kann der Tagebuchschreiber seine Vergangenheit nicht
abschuetteln. Diese Tatsache widerspiegelt sich auch auf der Zeitebene, wo
Vergangenheit und Gegenwart ineinander verflochten bleiben. Dadurch
entstehen Brechungen, sodass sich Ereignisse gegeseitig spiegeln und
erhellen.
Keine chronologisch erzaehlte Handlung ist im Roman vorhanden, sondern
ein kompliziertes Geflecht mehrerer Zeitebenen. Die Vergangenheit wird in
Form von Rueckerinnerungen und Berichten in die Gegenwart hereingeholt und
mit ihr konfrontiert.
"Ich soll mein Leben erzaehlen, und wenn ich versuche, mich
verstaendlich zu machen, sagen sie: Hirngespinste! […]. Mein Verteidiger
hoert zu, solange ich von meinem Haus in Oakland rede, von Negern und
anderen Tatsachen; sowie ich zur wahren Geschichte komme […] putzt mein
Vertedtiger sich die Fingernaegel, wartet nur darauf, mich zu unterbrechen
mit irgendeiner Lappalie: "Sie hatten ein Haus in Oakland?" […] Es war vier
Meter breit und dreizehn Meter lang (mein Verteitiger notiert, das ist es, was er wissen will!) und eigentlich, ganz genau zu sein, war es eher eine
Schindelhuette." (Frisch 1992: 60-61)
In diesem Zusammenhang kann man behaupten, dass die Zeit zum Objekt und zugleich zum Instrument im Zusammenspiel der Realitaeten wird.
Wenn wir die Zeitstruktur des Romans unter die Luppe nehmen, ist auch
in erster Linie zwischen dem schweizerischen und amerikanischen/
mexikanischen Text zu unterscheiden. Fuer das, was aus Amerika berichtet
wird, ist keine genaue Datierung festzulegen, mit Ausnahme des
Selbstmordversuchs, den Stiller vor seiner Rueckkehr unternimmt. White hat
also keine Vergangenheit, die sich erzaehlen liesse, er gibt nur einzelne
Impressionen wieder, einzelne, nicht chronologisch aufeinander folgende
Erinnerungen, die sich meist auf den Aufenthalt in Mexiko beziehen. Diese
Mexiko-Erinnerungen sind haeufig im Praesens geschrieben, ein Zeichen fur
eine Art Zeitlosigkeit des dortigen Lebens.
Im Unterschied dazu ist fuer den 'schweizerischen Text' eine andere
Zeitform, das Praeteritum, charakteristisch.
"Auf dem Tischlein standen drei Rosen, alles im Preis inbegriffen und alles, versteht sich, bei Kerzenlicht." (Frisch 1992: 298)
"Mexiko! Man erinnert sich an Farbfilme, und genauso ist es, malerisch, sehr malerisch, und doch, in Wirklichkeit, gibt es Augenblicke, wo man sich ploetzlich fuerchtet. Es stinkt nach einem toten Hund. Kinder
sitzen mit nacktem Hintern auf dem Unrat, auf dem Faeulnis alter Fruechte.
Auf dem Boden liegt die Ware, ich sehe sie noch heute: Bohnen und Erbsen,
Nuesse, Fruechte, die ich zum erstenmal sehe. " (Frisch 1992; 29)
Es sind die Impressionen eines rollenlosen, entindividualisierten
Ichs, (Lusser- Mertelsmann 1976: 62) das keine Vergangenheit und keine
Zukunft kennt. Diese gewissermassen zeitlose Existenzweise wird auch vom
Tagebuch-Ich uebernommen, das entgegen dem ueblichen Gebrauch seine
Eintragungen ohne Datum vornimmt. Wir koennen zwar den Fruehherbst 1952 als
Datum der Rueckkehr festlegen, erfahren aber nicht genau, wie lange die
Untersuchungshaft dauert.
Die Gegenwartsebene- die Monate der Untersuchungshaft, der
schweizerische Text - wird nun der durch Rueckwendung hereingeholten
Vergangenheitsebene gegenuebergestellt. Das 2. Heft holt dabei zeitlich am
weitesten aus, es beginnt mit dem Kennenlernen Stillers und Julikas kurz
nach seiner Ruckkehr aus Spanien und erzaehlt von da an die Geschichte
ihrer Ehe, jedoch nicht einfach chronologisch, sondern nach einer kurzen
Schilderung des Anfangs und der Probleme dieser Ehe springt der Bericht
sofort auf das Krisenjahr 1945 (das war vor etwa sieben Jahren - (Frisch
1992: 94). Dieses wird nun von Julikas Standpunkt aus ausfuehrlich
geschildert, dazwischen aber heisst es: Hier waere etwas nachzutragen
(Frisch 1992: 139), und nun erst erfahren wir Stillers Spanienerlebnis aus
dem Jahre 1935. Dies ist - mit Ausnahme einiger Kindheitserlebnisse, die
aber nicht in unmittelbarer Beziehung zur Handlung stehen - der frueheste
im Roman dargestellte Zeitpunkt. Die Gegenwart macht sich also immer wieder
bemerkbar, auch in den Rueckwendungen.
Die beiden anderen der Vergangenheit gewidmeten Hefte - 4 und 6 -haben
zwar eine einfachere Zeitstruktur, weil sie fast ausschliesslich vom Jahr
1945 handeln. Aber auch hier ist die Erzaehlung immer wieder durch
Einschuebe in der Gegenwart unterbrochen, nicht nur durch die bereits
erwaehnten Bemerkungen und Kommentare des Tagebuchschreibers, sondern auch
durch Ereignisse und Reflexionen in der Gegenwart. So heisst es im 4. Heft
ploetzlich: "Sibylle (die Frau meines Staatsanwalts) hat gestern kurz nach
Mitternacht ein beinahe siebenpfundiges Maedchen geboren" (Frisch 1992:
218), oder im 6. Heft: "Manner sind komisch!" findet Sibylle noch heute""
(Frisch 1992: 284), und nach dem Bericht, dass Sibylle sich in Le Havre
eingeschifft habe: "Mein Freund, der Staatsanwalt, meldet, dass die
Schlussverhandlung (mit Urteilsspruch) auf Dienstag in acht Tagen angesetzt
ist " (Frisch 1992: 308). Die Gegenwart bleibt also im Bewusstsein des
Lesers immer vorhanden. Karlheinz Braun kommentiert diesen Sachverhalt
folgendermassen: "Es ist deutlich, dass in diesen Heften die Vergangenheit
dominiert, doch Frisch macht von der Moeglichkeit, die momentane Gegenwart
aufleuchten zu lassen, so reichlich Gebrauch, dass sich hier Vergangenheit
und Gegenwart eigentuemlich vermischen" (Braun 1959: 78)
Das 7. Heft nimmt sowohl in der Erzaehlhaltung als auch in der
zeitlichen Struktur eine Sonderstellung ein. Es enthaelt zunaechst, ebenso
wie die anderen Hefte mit ungerader Numerierung, Erlebnisse im Gefaengnis, also in der Gegenwartsebene: Besuch beim Zahnarzt, Gespraech mit dem
Staatsanwalt, Gang auf den Friedhof und Besuch von Freunden, gemischt mit
Reflexionen und Erinnerungen an Mexiko, die uebrigens wieder im zeitlosen
Praesens geschrieben sind. Danach folgt die Rueckwendung auf Stillers
Vergangenheit in der Ich-Form, beginnend mit den Worten: "Es ist ja nicht
wahr [...]" (Frisch 1992: 334). Schliesslich wird ein ganzer Tag im
Gefaengnis protokolliert, eingeleitet durch die Substantive mit zeitlicher
Bedeutung: 1. Der Vormittag, 2. Das Mittagessen, 3. Der Nachmittag. Diese
Protokolle werden immer ausfuehrlicher, der Bericht vom Nachmittag nimmt 23
Seiten ein (355-378). Hier naehert sich die Erzaehlzeit der erzaehlten
Zeit, so wie sich die White-Handlung der Stiller-Handlung naehert und
schliesslich mit ihr verschmilzt. Das Protokoll war bisher die Form, in der
die Vergangenheit Stillers dem Leser vermittelt wurde. Dass sie hier auf
die Gegenwartsebene, den Aufenthalt im Gefangnis, angewandt wird, ist ein
Zeichen dafuer, dass der Tagebuchschreiber White Stillers Vergangenheit als
die seinige uebernimmt. Das Gefuehl ein neuer, anderer Mensch zu sein, das
ihn auch jetzt nicht verlaesst, wird erst jetzt, unmittelbar vor der
Urteilsverkuendung, durch den Bericht von seinem Selbstmordversuch und die
daraus resultierende Empfindung einer Neugeburt begruendet. "Ich hatte die
bestimmte Empfindung erst jetzt geboren worden zu sein, und fuehlte mich
mit einer Unbedingtheit, die auch das Laecherliche nicht zu fuerchten hat, bereit, niemand anders zu sein als der Mensch, als der ich eben geboren
worden bin, und kein anderes Leben zu suchen als dieses, das ich nicht von
mir werfen kann" (Frisch 1992: 381).
Dies ist die einzige Rueckwendung auf den Amerika-Aufenthalt, die zeitlich datiert wird: "Vor etwa zwei Jahren versuchte ich, mir das Leben zu nehmen "(Frisch 1992: 378).
Im Zusammenhang mit dem Gesagten, koennen wir zum Schluss kommen, dass
die Zeit im Roman auch als Element des Spieles fungiert. Das kann durch die
Tatsache bewiesen werden, dass die Zeitlosigkeit im amerikanischen Text als
Zeichen der Irrealitaet des dortigen Lebens fungiert und fuer die Schweiz
dagegen detailierte Zeitangaben typisch sind.
3. Die Stilebene
Nicht nur in raeumlich-zeitlicher Hinsicht lassen sich die Schweiz und
Amerika gegenueberstellen. Diese zwei Welten, zwei verschiedene
Realitaeten, werden auch auf der Stilebene miteinander konfrontiert. Das
gilt in erster Linie Landschaftsbeschreibungen. Nachstehend werden drei
Landschaftsschilderungen aus der sprachlicher Sicht analysiert und
verglichen.
Die erste ist die Beschreibung der Wueste in Mexiko. Hier arbeitet der
Erzaehler mit Anaphern: "Farben des gluehenden Mittags, Farben der
Daemmerung, Farben der unsaeglicher Nacht" (Frisch 1992: 26); mit
Wortwiederholungen: "Sand und Sand und wieder Sand" (Frisch 1992:26), vor
allem aber mit zahlreichen Vergleichen. Bei diesen Vergleichen faellt auf, dass sie haeufig das Gesagte wieder einschraenken: "wie Orgelpfeifen oder
siebenarmige Leuchter, aber haushoch, […] nicht eigentlich gruen, eher
braeunlich wie Bernstein." (edg.: 26) Manchmal wird auch der poetische
wirkende Vergleich durch den prosaischeren ersetzt: "[…] wie mattes Gold
oder auch wie Knochenmehl" (ebd.) dadurch wird der gehobene Stil immer
wieder gebrochen. Ebenso heisst es am Schluss der Beschreibung der Wueste:
"Es erfuellte uns, ich erinnere mich, ein feierlicher Uebermut; kurz darauf
platzte der hintere Pneu" (Frisch 1992: 27)
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