Zusammenspiel der Realiatete als eines der Hauptprinzipien des Sujetaufbaus im Roman Stiller von Max Frisch
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Sie folgen aufeinander nach folgendem Prinzip: Die in Ichform
gehaltenen Erlebnisse des Haeftlings White wechseln alternierend mit
dem, was er nach Erzaehlungen anderer (Julikas, Rolfs und Sibylles) zu
protokollieren vorgibt. So fuellt die Darstellung der Ehe Stillers und
Julikas das zweite umfangreichste Heft der Aufzeichnungen, die Ehe
zwischen Rolf und Sibylle, in der Stiller ja als Sibylles Liebhaber
aufgetaucht ist, das vierte, die Liebesgeschichte zwischen Sibylle und
Stiller das sechste Heft.
Diese drei Hefte sind also fast ausschliesslich der Vergangenheit
gewidmet, sie enthalten die Stiller-Handlung. Hefte 1,3 und 5 dagegen
geben die Erlebnisse und Gedanken Whites im Gefangnis und in Amerika
wieder; diese Hefte stellen die White-Handlung dar. Die
Identitaetsspaltung zwischen White und Stiller findet in dieser
Struktur ihre genaue Entsprechung.
Eine Sonderstellung nimmt das siebente Heft ein: Der
Tagebuchschreiber weigert sich zwar noch immer Stiller zu sein, berichtet aber andererseits zum ersten Male von Stillers Erlebnissen in
der Ichform. (vgl. Frisch 1992: 334) Am Ende des siebenten Buches sind
mit dem Urteilsspruch White und Stiller identisch geworden, beide
Handlungsstraenge sind ineinander geflossen. Es ist also auch formal
konsequent, dass hier die Tagebuchform aufhoert und ein neuer Erzaehler
zu Worte kommt.
3.2 Form und Funktion des Tagebuchs
Max Frisch bedient sich der Tagebuchform. Diese Form findet sich
haeufig bei Frisch, angefangen von den "Blaettern aus dem Brotsack" bis
hin zu "Montauk". Die beiden "Tagebuecher 1946-1949 und 1966-1971"
gehoeren zu seinem schriftstellerischen Werk nicht weniger als seine
Romane, doch ist die Art und Funktion dieser Form nicht ueberall die
gleiche.
Auf die Besonderheit und Funktion der Tagebuchform im Roman
"Stiller" moechte ich eingehen.
Vom Tagebuch kann man, genau genommen, nur in den Heften mit
ungerader Numerierung sprechen. Dort sind Erlebnisse und Gedanken des
Untersuchungshaeftlings festgehalten, er schreibt in der ersten Person
und meist in der Gegenwart. Die eingeflochtenen Geschichten und die
Knobel und dem Verteidiger erzaehlten Amerika-Erlebnisse ueberschreiten
eigentlich schon den Charakter des Tagebuchs; sie enthalten
Rueckwendungen, die dazu bestimmt sind, fuer Mr. White eine
Vergangenheit aufzuzeigen. Das Ich, das hier von sich spricht, ist nur
eine Fiktion; nur die in der dritten Person gehaltenen Protokolle
beschaeftigen sich mit dem 'eigentlichen' Ich, dem Titelhelden des
Buches.
Die Form des Tagebuchs ist also hier, wie Duerrenmatt
festgestellt hat, "die eines fingierten Tagebuchs einer fingierten
Personlichkeit, die damit die Behauptung aufrechterhalten will, sie sei
nicht eine andere" (Duerrenmatt 1971: 11).
Das trifft allerdings nur auf die ersten Hefte zu. Im Schreiben
veraendert sich der Tagebuchschreiber, er setzt sich mit der Rolle
auseinander, die er einst gespielt hat und die ihm seine Umgebung
wieder aufdraengen will. Kurz bevor er in Ichform von Stillers
Vergangenheit schreibt, definiert er die Funktion des Schreibers fuer
sich selbst folgendermassen:
"Kann man schreiben, ohne eine Rolle zu spielen? Man will sich
selbst ein Fremder sein. Nicht in der Rolle, wohl aber in der
unbewussten Entscheidung, welche Art von Rolle ich mir zuschreibe, liegt meine Wirklichkeit. Zuweilen habe ich das Gefuehl, man gehe aus
dem Geschriebenen hervor wie eine Schlange aus ihrer Haut. Das ist es;
man kann sich nicht niederschreiben, man kann sich nur haeuten" (Frisch
1992: 330).
Erst der Prozess der Selbstbesinnung durch das Tagebuch macht
Stiller reif fuer seine 'neue Haut', fuer die erste Stufe der
Selbstannahme. Aehnlich definiert Frisch im "Tagebuch 1945-1949" die
Funktion des Tagebuchs fuer den Schreibenden:
"Indem man es nicht verschweigt, sondern aufschreibt, bekennt man sich zu seinem Denken, das bestenfalls fuer den Augenblick und fuer den Standort stimmt, da es sich erzeugt. Man rechnet nicht mit der Hoffnung, dass man uebermorgen, wenn man das Gegenteil denkt, klueger sei. Man ist, was man ist. Man haelt die Feder hin, wie eine Nadel in der Erdbebenwarte, und eigentlich sind nicht wir es, die schreiben; sondern wir werden geschrieben. Schreiben heisst: sich selber lesen" (Frisch 1950: 22).
3.3 Erzaehlsituation und Erzaehlhaltung
Die besondere Art und Form des Tagebuchs im "Stiller" laesst sich
erst ganz verstehen, wenn die Erzaehlsituation und Erzaehlhaltung
genauer untersucht werden. Die Erzaehlsituation ist bestimmt durch
Stillers Aufenthalt im Gefaengnis.Die Isolation im
Untersuchungsgefaengnis zwingt Stiller zum Schreiben, andererseits ist
es aber die Konfrontation mit der Ehefrau, Feinden, dem Verteitiger und
Staatsanwalt, die auch fuer Wahrheitsermittlung notwendig ist. Diese
Situation ist besonders geeignet fuer die dem Ich-Roman eigene
Gewissenserforschung
(vgl. Stanzel 1964: 31), fuer die Darstellung des Identitaetsproblems.
Nach Stanzels Romantheorie ist "Stiller" am ehesten der Kategorie
der Ich- Erzaehlhaltung zuzuordnen. Bei dieser Erzaehlsituation
dominiert das berichtende Erzaehlen durch eine Erzaehlerfigur und die
Innensicht auf das Figurenbewusstsein. Unter der Kategorie "Person" ist
diese Erzaehlsituation immer mit einem Erzaehler in der Ich-Form
verbunden. Da aber auch ein auktorialer Erzaehler durchaus "Ich" sagen
kann, muss eine Abgrenzung vorgenommen werden: In der Ich-
Erzaehlsituation bezeichnet die erste Person Singular sowohl den
Erzaehler als auch eine Handlungsfigur, der Erzaehler und die Figur
gehoeren also dem selben Seinsbereich an.
Die Ich-Erzaehlsituation vereint mehrere, scheinbar
widerspruechliche Aspekte: zum einen scheint die "epische Distanz"
vollstaendig aufgehoben zu sein, steht der Erzaehler doch als ein
Handelnder mitten im Geschehen. Zum anderen aber ist dieselbe Distanz
geradezu konstituierend fuer ihn, da er doch nur erzaehlen kann, was
zeitlich schon vergangen ist. Wie man sieht, ist der Ich-Erzaehler eine
"gespaltene Persoenlichkeit", deren eine Seite als "erlebendes Ich", die andere als "erzaehlendes Ich" bezeichnet wird. Diese Aufteilung
erlaubt es ihm auf der einen Seite, sehr authentisch und unmittelbar
ueber sein Innenleben zu reflektieren. Doch ist diese Moeglichkeit zur
ausgiebigen Introspektion durch ein sehr enges Blickfeld - eben nur das
seine - erkauft, das erfordert, andere Figuren lediglich von aussen zu
beschreiben. Eine gewisse Naehe zur personalen Erzaehlsituation liegt
hier auf der Hand. Auf der anderen Seite aber erzaehlt er seine
Geschichte - haeufig sein Leben oder doch wenigstens Episoden daraus -
aus einem mehr oder weniger grossen zeitlichen Abstand. Das befaehigt
ihn, kommentierend und wertend, zuweilen reuevoll, auf sein Leben
zurueckzublicken, was seine Perspektive wiederum an die des auktorialen
Erzaehlers annaehert.
Als Stiller das Gefangnis verlaesst, aendert sich mit der
Situation auch die Erzaehlhaltung, ein anderer uebernimmt die
Vermittlung der folgenden Ereignisse. Aber der erste Teil ist kein
reiner Ich-Roman. Es ist nicht so, wie es Walter Jens als eine
Moeglichkeit beschrieben hat, von der der Autor keinen Gebrauch gemacht
hat: "Anatol Stiller sitzt an seinem Zellen-Tisch, haelt Rueckschau und
konfrontiert die Begebenheiten von heute - Ausgang und
Gefaengnisbesuche - mit den Ereignissen von gestern" (Jens 1971: 17).
Der, der die Aufzeichnungen niederschreibt, behauptet ja gerade, nicht
Anatol Stiller zu sein. Wenn er ich schreibt, so meint er nicht
Stiller, sondern den Untersuchungsgefangenen White. Diesem hat der
Verteidiger ein Heft gegeben, in dem er sein Leben aufschreiben soll, wohl um zu beweisen, dass ich eines habe [...], wie er ironisch
anmerkt. (Frisch 1992: 9)
An Stelle eines Lebensberichtes verfasst er jedoch ein Tagebuch, das neben seinen Erlebnissen im Gefaengnis und einigen wenig glaubhaften Geschichten aus Amerika nichts ueber sein frueheres Leben enthaelt, was in Ich-Form berichtet wuerde. Das Tagebuch-Ich erweist sich als ein Ich ohne Geschichte.
"Das Ich vermag sich offenbar allein als ein gegenwaertiges zu
dokumentieren" (Steinmetz 1973: 36), denn es existiert - genau genommen
- erst seit zwei Jahren, seit dem Selbstmordversuch. Eine Geschichte
hat nur der verschollene Stiller aufzuweisen, ueber den aber gerade
nicht in der ersten, sondern stets in der dritten Person berichtet
wird, der also bis zum 7. Heft hin nie als Ich-Erzaehler in Erscheinung
tritt.
"Das Ich wird ein Objekt", wie Duerrenmatt sagt (Duerrenmatt
1971: 12), es wird von aussen, in der dritten Person, beschrieben, so
wie die anderen es sehen. Es vermittelt dem Leser das Bild Stillers in
den Augen der anderen, jenes Bild, vor dem er gerade geflohen ist.
Die Erzaehlhaltung ist also doppelt gebrochen, einmal wird vom
Roman-Ich in der dritten Person gesprochen, andererseits werden diese
Er-Berichte wiederum durch den Ich-Erzaehler vermittelt, der mit der
dargestellten Person identisch ist. Die Spannung zwischen erzaehlendem
und erlebendem Ich, die einen Reiz des Ich-Romans ausmacht, wird hier
noch gesteigert. Der Ich-Erzaehler bringt sich dem Leser immer wieder
in Erinnerung; obwohl er beteuert: "Ich will aber versuchen, in diesen
Heften nichts anderes zu tun als zu protokollieren, was Frau Julika
Stiller-Tschudy [...] mir oder meinem Verteidiger von ihrer Ehe selber
erzaehlt hat" (Frisch 1992: 90), schimmert seine innere Beteiligung an
den Vorgaengen von Anfang an durch.
Da gibt es einmal neutrale Einfuegungen wie ich protokolliere
[...], scheint es [...], offenbar [...], so sagt er [...], so meint
mein Staatsanwalt [...], so sagt Sibylle usw., die den Redefluss nur
kurz unterbrechen. Daneben stehen scheinbar distanzierende Kommentare
wie Als Fremder hat man den Eindruck (Frisch 1992: 89), es liegt mir
sonst wenig daran, mit dem Verschollenen einig zu sein (Frisch 1992:
100) oder Wieso ist er eigentlich so offen zu mir? (Frisch 1992: 222).
Im zweiten Teil haben wir wiederum einen Ich-Erzaehler, der aber
nicht im Mittelpunkt, sondern am Rande des Geschehens steht. Franz
Stanzel nennt diese Erscheinung "Retrospektive mit Randstellung des Ich-
Erzaehlers" (vgl. Stanzel: 1955). Daher wird er haeufig als neutraler, objektiver Beobachter angesehen. So betont Braun den
Protokollcharakter, den diese Aufzeichnungen ebenso wie Heft 2,4 und 6
trugen, und er stellt sie daher als 8. Heft den 7 Heften des ersten
Teiles zur Seite (vgl. Braun 1959: 34 und 75).
Demgegenueber muss doch auf den entscheidenden Unterschied
zwischen dem ersten und dem zweiten Teil hingewiesen werden, der darin
liegt, dass der Protokollant im Tagebuch eben derjenige ist, um den es
geht, waehrend sich Rolf distanziert zu dem Geschehen verhaelt.
Juergensen meint: "Rolf stellt seine epische Darstellung zu keiner Zeit
in Frage; er bleibt der autoritaere, allwissende Erzahler". (Juergensen
1972: 76)
Ist der Staatsanwalt wirklich ein allwissender Erzahler?
Hoechstens wohl insofern, als er bereits das Ende der Geschichte -
Julikas Tod kennt und von daher seinen Bericht zusammenfasst. Seine
Objektivitaet ist doch fraglich. Sein Verhaeltnis zu Stiller ist sicher
zwiespaeltig. Von diesem wird er im Tagebuch immer als sein Freund
bezeichnet; seine Freundschaft drueckt sich jedoch kaum in echten
Hilfeleistungen aus. Einmal besuchen er und seine Frau das Stillersche
Ehepaar im Hotel, dann vergehen anderthalb Jahre bis zu seinem ersten
Besuch in Glion. Stillers Anrufe waehrend dieser Zeit, die wohl ein
Zeichen seiner schwierigen Situation sind, sind Rolf laestig.
Vielleicht spielt in seinem Unterbewusstsein immer noch die Eifersucht
auf den frueheren Liebhaber seiner Frau eine Rolle, was ihm ja auch
einmal - bei dem gemeinsamen Spaziergang zu dritt - zu Bewusstsein
kommt: "In den uebrigens seltenen Augenblicken solcher Art wurde mir
das Vergangene doch sehr bewusst; unsere Gegenwart zu dritt bestuerzt
mich dann wie etwas Unmoegliches, zumindest Unerwartetes" (Frisch 1992:
416). Zum objektiven Berichterstatter eignet sich dieser Mann gewiss
nicht
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