Zusammenspiel der Realiatete als eines der Hauptprinzipien des Sujetaufbaus im Roman Stiller von Max Frisch
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"Julika scheint erwartet zu haben, mein Gestaendnis liege bereits vor,
[…]." (Frisch 1992: 366)
"Noch immer mit der warmen Ruhe der Zuversicht versuche ich Julika zu erklaeren, warum sie, so sie mich wirklich liebt, kein Gestaendnis von mir braucht, dass ich ihr verschollener Gatte sei." (Frisch 1992: 367)
"[…], nach einigem Warten, […], erhebe ich mich, spuere ploetzlich sehr schwere Beine, staube meinen Mantel ab, um Zeit fuer irgendeine gluecklichere Wendung zu lassen, gehe endlich zur Tuere, […], die geschlossen ist. Geschlossen." (Frisch 1992: 368)
""Da!"-lache ich vor Wut, die mich im Grunde doch nicht verlassen hat, und reisse so ein Sacktuch ab, ratsch, und wie erwartet: lauter Staub, von
keinem Verteitiger zu halten, ein Gebroesel von trockenem Lehm, und das
naechste ebenso, Mumien, nichts als Mumien, das ist aber auch alles, was
von ihrem verschollenen Stiller sich haelt, der Rest ist Erde, wie der
Pfarrer sagt, ein paar graubraune Klumpen auf dem Boden, vor allem aber
eine Wolke von braunem Staub, wenn ich die Sacktuecher schuettle." (Frisch
1992: 370)
War das Gefuehl, in dreifacher Hinsicht versagt zu haben, der Grund
fuer Stillers Flucht nach Amerika, so lohnt es sich zu fragen, ob es ihm
dort gelungen ist, sich ein neues Leben und eine neue Identitaet mit sich
selbst aufzubauen. Dem naiven Waerter Knobel gegenueber, der seine
Erzaehlungen staunend und glaeubig anhoert, zeichnet er ein Gegenbild:
einen erfolgreichen Mann, der sich ohne Hemmungen nimmt, was er haben
moechte, und der Glueck bei den Frauen hat. So ermordet er den Haaroel-
Gangster Schmitz mit dem Dolch, weil "dem in einem ordentlichen Rechtsstaat
nicht beizukommen ist" (Frisch 1992: 25); rettet eine Mulattin aus dem
brennenden Saegewerk, erschiesst ihren Mann Joe: "Liebst du mich oder
liebst du ihn?[…] Und Schuss. Und kein Wort mehr von Joe" (Frisch 1992:
52).
Die Wirklichkeit seines Amerika-Aufenthaltes hat offenbar anders
ausgesehen. Wenn man auch nur wenig ueber Stillers Leben dort erfaehrt, so
wird doch deutlich, dass er seine Vergangenheit, insbesondere seine
Schuldgefuehle gegenueber seiner Frau, auch hier nicht abschuetteln kann.
Sinnbild dieser Bindung an die Vergangenheit ist die Geschichte von der
Katze, die leitmotivisch das Tagebuch durchzieht. Wenn wir die Gestalt von
"Little Grey" in die Analyse miteinbeziehen, koennen wir feststellen, dass
White in diesem Bild symbolisch fuer Stiller steht. Die Beziehung von White
zu seiner Katze zeigt Interpetationsmoeglichkeiten bezueglich derselben zu
den Beziehungen von Stiller und Julika. Es war in Oakland/ California, und
er durfte im Hause wohnen, wenn er dafuer die Katze fuetterte. Wenn sie ihn
stoerte, warf er sie hinaus. Doch sie fand wieder ins Haus: "Es wurde ein
Kampf um Ausdauer… weil sie um meine Huette jaulte und mich der ganzen
Nachberschaft verschrie… Ihr Blick drohte mit sterben…"(Frisch 1992: 62)
Es ist genauso wie bei Julika, durch deren Krankheit er sich an sie
gefesselt fuehlt. Auch das Gefuehl der eigenen Minderwertigkeit gegenueber
Julika uebertraegt er auf die Katze:"Sie lebte… wenn auch mit der Miene
einer Siegerin…" (Frisch 1992: 339)
Die Tatsache, dass Stiller die Katze einmal in dem Eisschrank
eingesperrt hat, koennte Julika's Frigiditaet symbolisieren, ueber die sich
Stiller im Nachwort bei Rolf beklagt.
Er wird die Katze, die er einmal als "Vorbote(n)" bezeichnet (61) und die er innerlich mit seiner Frau in Beziehung setzt (Frisch 1992: 339), ebenso wenig los wie seine Vergangenheit.
Den letzten verzweifelten Schritt, damit zu brechen, stellt der
Selbstmordversuch dar, den Stiller zwei Jahre vor seiner Rueckkehr in die
Schweiz unternimmt. Es ist der Versuch, "ein Leben, das nie eines gewesen
war" (Frisch 1992: 381), von sich zu werfen. Der Schmerz und der Schrecken, die hinterher einsetzen, zeigen ihm, dass er lebt; er nennt dieses Erlebnis
seinen Engel. Nun will er so leben, "dass ein wirklicher Tod zustandekommt"
(Frisch 1992: 381), das heisst, dass er mit sich selbst identisch wird.
Stiller kann ueber dieses Erlebnis nur in Andeutungen berichten, es "ist
nicht verbalisierbar, dabei ist gerade darin seine tiefste Erkenntnis ueber
sich selbst begruendet" (Tildy 1967: 23). Das Gefuehl, von diesem Zeitpunkt
an ein neues Leben begonnen zu haben, "die bestimmte Empfindung, jetzt erst
geboren worden zu sein" (Frisch 1992: 381), ist der tiefste und meiner
Meinung nach der eigentliche Grund, weswegen der Heimkehrer sich weigert
seinen frueheren Namen wieder anzunehmen. Denn damit geriet er unweigerlich
wieder in sein frueheres Leben hinein, ubernaehme eine Rolle, in die er
nicht mehr passt. Niemand ist naemlich bereit in ihm einen neuen, gewandelten Menschen zu sehen, jeder sucht in ihm nur die Zuege des Anatol
Stiller, die er von frueher her kennt. Darum heisst es schon auf S. 49:
"Ich bin nicht ihr Stiller [...] Wozu mein Geflunker? Nur damit sie mir
meine Leere lassen, meine Nichtigkeit, meine Wirklichkeit, denn es gibt
keine Flucht, und was sie mir anbieten, ist Flucht, nicht Freiheit, Flucht
in eine Rolle". (Frisch 1992: 49)
" Es gibt keine Flucht" - dieser Satz taucht immer wieder auf und
diese Einsicht ist eine der Grundlagen des Romans ueberhaupt, denn weil
Stiller erfahren hat, dass Flucht vor sich selbst nicht nuetzt, um mit sich
selbst fertig zu werden, kehrt er in die Schweiz zurueck. Aber mit der
Rueckkehr in die Schweiz ist die Flucht vor sich selbst noch nicht
aufgehoben, denn der Gefangene weigert sich die Identitaet mit dem
Verschollenen zu gestehen.
Max Frisch hat in seinem Roman eine innere, psychische Situation, naemlich die Flucht vor sich selbst als eine aeusserliche Situation
dargestellt. Der Roman ist eine Darstellung eines Ich-Zerfalls und zugleich
der Versuch der Wiederherstellung, der Heilung durch Selbstsuche. Gleich
mit dem Beginn des Romans faengt diese Selbstsuche an und in dieser
Ausseinandersetzung mit sich selbst liegt die psychoanalytische Faerbung
des Romans.
"Was Frisch hier darstellt, ist tatsaechlich eine Art Selbstanalyse
als Reaktion auf das Scheitern der Flucht vor sich selbst, und diese
Selbstanalyse hat sehr viel Aehnlichkeit mit der psychoanalytische
Therapie" (Wesstein 1967: 256)
3. Der amerikanische und der schweizerische Text im Roman.
Versuch einer vergleichenden Analyse
Das Zusammenspiel der Realitaeten kann aus einer anderen Sicht
untersucht werden, die aber von dem Begriff der Mehrschichtigkeit in
"Stiller" nicht wegzudenken ist. Das ist die Opposition 'die Schweiz-
Amerika', wo Amerika aus Stillers Perspektive fuer die Welt der Flucht
steht und die Schweiz der Ort seines Versagens ist.
Bei der kritischen Darstellung der Schweiz muss zwischen der Stillers
und der Whites unterschieden werden, das heisst zwischen den kritischen
Aeusserungen Stillers vor seiner Flucht nach Amerika, die von anderen
Personen berichtet werden, und denen, die der Ich- Erzaehler in der
Gegenwart selbst ausspricht.
Im Rahmen der vorliegenden Analyse ist gerade Whites Position
gegenueber der Schweiz von Bedeutung, insbesondere in ihrer Opposition zu
Amerika, weil sie zu einem Instrument des Zusammenspieles zwischen Fakt und
Fiktion wird.
Die Gesellschaftskritik Mr. Whites ist durch die Form bestimmt. Der
Ich- Erzaehler tritt als Amerikaner auf, er schildert die Welt, die er
sieht, quasi von aussen, als Fremder, wenn er schreibt: " Zuerich koennte
ein reizendes Staedchen sein" (Frisch 1992: 77) (und darin liegt schon eine
gewisse Kritik), wenn er Zuericher Grossmuenster "eine Art kleine
Kathedrale" nennt, so glaubt man zunaechst, White sei wirklich ein Fremder.
Allmaehlich aber gewinnt seine Kritik an der Schweiz eine Schaerfe, wie sie
ein Fremder wohl nicht aufbraechte. Der Verteitiger nimmt es auch als
Beweis dafuer, dass sein Mandant Schweizer und somit der gesuchte Stiller
ist.
" Sie wollen mir nur vormachen, dass Sie kein Schweizer sind und somit nicht Stiller", sagt er, " aber Sie werden mir nichts vormachen; ihr Hass gegen die Schweiz beweisst mir noch lange nicht, dass Sie kein Schweizer sind. Im Gegenteil!" ruft er, da ich lache, " gerade damit verraten Sie sich." (Frisch 1992: 196)
Der Tagebuchschreiber betont jedoch, dass seine Kritik eigentlich
nicht der Schweiz gelte: " Ich hasse nicht die Schweiz, sondern die
Verlogenheit" (Frisch 1992: 196). Diese Erscheinung ist keinesfalls auf die
Schweiz beschraenkt, entzuendet aber stets die Kritik an den Schweizer
Verhaeltnissen. Sie scheinen alles zusammenzufassen, was Stiller an der
buergerlichen Gesellschaft ueberhaupt kritiesiert. Das haengt wohl mit der
Funktion zusammen, die die Schweiz fuer ihn und seine Identitaetsfindung
hat. So meint Jurgensen: " Stillers Gesellschaftskritik ist ein
wesentlicher Bestandteil seiner Selbstanalyse" (Juergensen 1972: 80)
1. Die raeumliche Perspektive
Der Schweiz, deren raeumliche und geistige Enge Stiller ein Aergernis
ist, wird im Roman ein Gegenbild gegenuebergestellt: Amerika, Sinnbild der
Weite, des urspruenglichen, nicht genormten Lebens.
In folgenden Zitaten kommt diese Gegenueberstellung durch die Wortwahl zum Ausdruck, wobei fuer die Schweiz Epitheta wie "klein, angemessen, genuegend" und fuer Amerika solche wie "gross, gluehend, unsaeglich, bluehend" gewaehlt werden:
"Meine Zelle- ich habe sie eben mit meinem Schuh gemessen, der nicht ganz dreissig Zentimeter hat - ist klein wie alles in diesem Land, sauber, so dass man kaum atmen kann vor Hygiene, und beklommend gerade dadurch, dass alles recht, angemessen und genuegend ist." (Frisch 1992: 15-16)
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