Zusammenspiel der Realiatete als eines der Hauptprinzipien des Sujetaufbaus im Roman Stiller von Max Frisch
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Der eigentliche Sinn der Geschichte laesst sich erst dann verstehen, wenn sie mit der realen Geschichte verglichen wird. Die wahre Geschichte
geraet auf die Oberflaeche viel spaeter und wird nicht mehr dem
interessierten Waerter erzaehlt, sondern gehoert den uebrigen Gefaengnis-
Aufzeichnungen an.
"Ich schwoere: es gibt eine Mulattin namens Florence, Tochter eines
Dockarbeiters, ich habe sie taeglich gesehen und einige Male mit ihr
geplaudert ueber einen allerdings sehr trennenden, aus alten Teertonnen
ververtigten und von Brombeeren umwucherten Zaun hinweg. Es gibt sie, diese
Florence mit dem gazellenhaften Gang. Ich traeume von ihr, gewiss, die
wildesten Traeume." (Frisch 1992: 187)
Die "kleine Mulattin" aus der White- Geschichte bekommt nun einen
tastbaren realen Umriss und einen Namen. Damit aber kommt ein Signal der
Umschaltung der Realitaeten zum Ausdruck. In der ersten Geschichte geht
White als Frauenheld zu Werke: ""Ich mag die Neger", sage ich, "aber ich
vertrage keine verheirateten Maenner, auch wenn es Neger sind. Immer mit
Ruecksicht, das liegt mir nicht! Natuerlich fuhren wir sofort ueber die
Grenze."" (Frisch 1992: 52)
In der Wirklichkeit aber kommt an Stelle Whites Stiller, von einem
Schuerzenjaeger keine Spur. Davon zeugt eine Episode im Bar.
" Man weiss, wie Neger tanzen. Ihr Partner war gerade ein halbdunkler
US-Army-Sergeant. […]. Ein grosser Kerl mit den schmalen Hueften eines
Loewen, mit zwei Beinen aus Gummi und mit dem halbgeoeffneten Mund der Lust
[…], ein Kerl, der den Brustkorb und die Schultern eines Michelangelo-
Sklaven hatte, der konnte nicht mehr; Florence tanzte allein. Ich haette
jetzt einspringen koennen. Wenn ich gekonnt haette." (Frisch 1992: 188)
"[…] sie sah mich, sagte: Hallo! Nice to see you! Und es troestete mich fast ueber das Bitterschoene meiner Verwirrung; denn ich wusste sehr wohl, dass ich diesem Maedchen nie genuegen koennte." (Frisch 1992: 189)
Mr. White ist in den Geschichten mit allen Attributen eines Machos
ausgeruestet: er verhandelt mit den Schmugglern in der Nacht, erschiesst
den Rivalen auf der Stelle. In Wirklichkeit erweist sich eher Joe als
richtiger Macho: "Ein grosser Kerl mit den schmalen Hueften eines Loewen, mit zwei Beinen aus Gummi und mit dem halbgeoeffneten Mund der Lust […]".
Stiller dagegen ist wiederum ein Versager "wenn ich gekonnt haette".
Und dann eine weitere Parallele, die diese Kluft zwischen White's erwuenschten "Macho-Welt" und Stillers Verwirrung gegenueber Frauen verdeutlicht: in der Macho- Geschichte erschiesst der kaltblutige White den betrogenen Joe. In Wirklichkeit aber ist es Stiller, der zu kurze kommt.
"Der USA-Army-Sergeant stand auch so herum. […]. Dann aber, endlich, kam meine herrliche Florence hinzu, gab mir ein Glas Bowle und sagte: "This is Joe, my husband." Ich gratulierte." (Frisch 1992: 191)
Der wilde Westen, das exotische Mexiko dienen als Kulissen einer
phantasierten, abenteurlichen Freiheit, die sich Stiller, Realitaeten
tauschend, nehmen will. Zum Symbol dieses durch keine Fessel zu bindenden
Ausbruchs wird im Roman die Beschreibung des Vulkans Paricutin in Mexiko.
"Mitten aus der Finsternis von toten Schlacken, die der Mond
bescheint, ohne ihre Schwaerze tilgen zu koennen, schiesst sie hervor wie
hellichter Purpur, stossweise wie das Blut aus einem schwarzen Stier. Sie
muss sehr duenn und fluessig sein, diese Lava, fast blitzhaft schiesst sie
ueber den Berg hinunter, langsam an Helle verlierend, bis der naechste
Ausguss kommt, Glut wie aus dem Hochofen, lauchtend wie die Sonne, die
Nacht erluechtend mit der toedlichen Hitze, der wir alles Leben verdanken, mit dem Innersten unseres Gehirns. Das muessten Sie sehen! In unserer
Seele, ich erinnere mich sehr genau, erwacht ein Jubel; wie er sich bloss
im Tanz entspannen koennte, im wildesten aller Taenze,ein Ueberschwang von
Entsetzen und Entzuecken, wie er die unbegreiflichen Menschen, die sich das
warme Herz aus dem Leibe schnitten, erfasst haben mag." (Frisch 1992: 46-
47)
Mit dieser Schilderung ersetzt Stiller zweifelsohne ihm widerliche
Wirklichkeit, stellt fiktive Freiheit dem realen innerlichen Zustand
gegenueber.
"Zuweilen, allein in meiner Zelle, habe ich das Gefuehl, das ich all dies nur traeume; das Gefuehl: Ich koennte jederzeit aufstehen, die Haende von meinem Gesicht nehmen und mich in Freiheit umsehen, das Gefaengnis ist nur in mir." (Frisch 1992: 20)
Die Verwandschaft zwischen Dichtung und Psychoanalyse ist nicht zu uebersehen: sie haben beide das menschliche Seelenleben zum Gegenstand, was ganz besonders fuer Frischs Literatur zutrifft. Ein Unterschied besteht vor allem darin, dass der Psychoanalytiker sich vorwiegend mit dem Seelenleben anderer befasst, der Dichter dagegen die Figuren, die er darstellt aus seinem eigenen Innern schoepft. (vgl. Freud 1907: 82)
Die Wirklichkeit liegt also nicht in der aeusseren Biographie; sie kann nur mit Hilfe vom Erdichteten ausgedrueckt und umschrieben werden. In seinen Phantasien will sich Stiller selbst erkunden.
2. Parabolische Geschichten in "Stiller"
Das Erzaehler-Ich in "Stiller" instrumentalisiert die Fiktion, um u.a.
seiner Suche nach dem wahren Ich Ausdruck zu verleihen. Das Eintauchen in
die Schichten seines Bewusstseins wird zur Abenteuergeschichte ueber eine
Expedition in eine Grotte. Die Geschichte beginnt wie die anderen Knobel
erzaehlten Geschichten als Abenteuer in Texas, der Erzaehler schildert sich
als Cowboy. Bald jedoch gewinnt die spannende Geschichte von der
Erforschung einer Hoehle eine tiefere Dimension: aus dem "unterirdischen
Arsenal der Metaphern" (Frisch 1992: 165) wird ein Sinnbild des
Unterbewusstseins, in dem der Kampf zwischen Jim und Jim, zwischen dem
alten und dem neuen Ich vor sich geht. Das ist ein klarer Hinweis auf die
Persoenlichkeitsspaltung des Erzaehlers, als auch auf die Todeserfahrung, die Stiller bei seinem Selbstmordversuch gemacht hat; dies wird noch
deutlicher beim Anblick des Skelettes, wenn der Erzaehler sagt: "[…] ich
[…] musste meinen ganzen Verstand zusammennehmen, um nicht das Skelett, dass da im runden Schein der Lampe lag, schlechterdings fuer mein eigenes
zu halten" (Frisch 1992: 162) Der schwierige Aufstieg aus der Hoehle ist
ein Symbol fuer die Wiedergeburt des neuen Ich, die Stiller nach seinem
Selbstmordversuch erlebt hat. Vergleicht er seine Erfahrung danach mit
einem Kindheitserlebnis: "[…] als Buben krochen wir manchmal durch einen
Abwasserkanal, das ferne Loch mit Tagesschein erschien viel zu klein, als
dass man je herauskommen koennte" (Frisch 1992: 379), so beschreibt er den
Ausgang der Hoehle mit aehnlichen Worten: "[…] ich sah ein paar Sterne, ein
paar scheinlose Funken in unendlicher Ferne". (Frisch 1992: 160)
Der Preis fuer diese Wiedergeburt ist der Kampf mit seinem 'Alter Ego'
und dessen Vernichtung; von ihm heisst es spaeter: "Ich denke, dieser
Verschollene wird sich auch nicht mehr melden!" (Frisch 1992: 172)
So bestaetigt die Antwort des Erzaehler-Ichs auf die Frage des
Gefaengniswaerters Knobel, ob er die Hauptperson in dieser Geschichte sei, eben dieses Verfahren, Erlebnismuster in Fiktionen auszudruecken: "Nein,
[...] das gerade nicht! Aber was ich selber erlebt habe, sehen Sie, das war
genau das gleiche - genau." (Frisch 1992: 172).
In aehnlichem MaЯe tragen die Geschichte von Isidor und das Maerchen
von Rip van Winkle die Erfahrung in sich, den Anforderungen einer Rolle
nicht gerecht zu werden. Die beiden sind Heimkehrgeschichten, obwohl Jim
White die Schweiz zum ersten mal bereist: der Heimkehrer ist naemlich
Stiller.
Die erste Geschichte, die das Thema "Heimkehren" anschlaegt ist die
von Isidor. White schreibt sie mit der Absicht nieder, sie Julika zu
erzaehlen, die aus Paris geholt wird, um mit ihm konfrontiert zu werden.
"Eine wahre Geschichte", so betont er ausdruecklich (Frisch 1992: 41); es
ist der erste Hinweis darauf, dass die "kleine Schnurre" (edg) in Beziehung
zu seiner eigenen Problematik steht. Hier kann man zahlreiche Parallelen
zwischen Whites Fiktion und Stillers Realitaet ziehen; erstens durch die
Zahl der Ehejahre, denn auch Stiller und Julika waren neun Jahre
verheiratet, ehe Stiller-wie Isidor- ploetzlich verschwand. Ironisch heisst
es, es sei im Grunde eine glueckliche Ehe gewesen, auch werden beide Frauen
als sehr liebenswert bezeichnet. Noch deutlicher wird die Beziehung
zwischen dem Fiktiven und Realen, als der Erzaehler berichtet, er habe die
Geschichte seiner schoenen Besucherin angepasst, "also unter Weglassung der
fuenf Kinder und unter freier Verwendung eines Traumes […] Isidor gibt, sooft er auftaucht, keine Schuesse in die Torte, sondern zeigt nur seine
beiden Haende mit Wundmalen" (Frisch 1992: 56). Der Heimkehrer will mit
dieser Geschichte sich und seine Motive Julika verstaendlich machen. Julika
aber reagiert genauso wie Isidors Frau, indem sie mit fast den gleichen
Worten sagt: "Warum hast du nie geschrieben? Wo bist du nur all die Jahre
gewesen?" (Frisch 1992: 59) Mit anderen Worten: sie ist nicht bereit in ihm
einen neuen, gewandelten Menschen zu sehen: "Ach, […] du bist noch immer
der gleiche" (Frisch 1992: 57)
Eine Ehe- und Heimkehrgeschichte ist auch das Maerchen von Rip van
Winkle, das Frisch von Washington Irving uebernommen und fuer seine Zwecke
leicht veraendert hat. Der Heimkehrer nennt sich in diesem Maerchen nicht
White, sondern Rip van Winkle, wodurch eine parabolische Spiegelung
entsteht. Die Ausgangssituation ist in beiden Geschichten aehnlich. Stiller
erkennt sich in Rip van Winkle wieder. Wie dieser ist er in den Augen der
Gesellschaft ein Versager, waehrend seine Frau, ebenso wie Julika, von
allen bedauert und bewundert wird.
Im Grunde ist dieser Rip van Winkle ein "herzensguter Kerl" (Frisch
1992: 72) und ein Fischer, "der nicht um der Fische willen fischte, sondern
um zu traeumen"(edg), und aehnelt so Stiller dem "deutschen Traeumer".
" Rip fuehlte es wohl, dass er einen Beruf haben muesste, und liebte es, sich als Jaeger auszugeben"(Frisch 1992: 73), doch auf weibliche Tiere vermag der "Jaeger mit dem Schiessgewehr" (edg) nicht abzudruecken- "stets hatte er mehr erlebt, als geschossen". (edg).
Sehr wichtig fuer das Verstehen Stillers Intention ist der Schluss der
Geschichte. Rip van Winkle bleibt bei Frisch ein "Fremdling in fremder
Welt" (Frisch 1992: 76), der an seiner Identitaet zweifelt. Auf die Frage, wer er ist, antwortet er: "Gott weiss es, gestern noch meinte ich es zu
wissen, aber heute, da ich erwacht bin, wie soll ich es wissen?" (edg).
Fast die gleichen Worte gebraucht der Tagebuchschreiber, um seine Situation
zu beschreiben: "Weiss ich denn selbst, wer ich bin?" (Frisch 1992: 84)
Dies schreibt er, kurz nachdem er dem Verteitiger das Maerchen erzaehlt hat
um diesem "aus seinem nachgerade ergreifenden Missverstaendnis meiner Lage
[…] herauszuhelfen" (Frisch 1992: 70) Waehrend aber der heimkehrende White
wider seinen Willen sofort als Stiller identifiziert wird, bleibt van
Winkle selbst gegenueber seiner Tochter unbekannt. Rip van Winkle gelingt
es praktisch wider Willen, was Stiller mit allen seinen Kraeften vergeblich
anstrebt: er kehrt als Unbekannter, als Fremder in sein Dorf zurueck.
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