Zusammenspiel der Realiatete als eines der Hauptprinzipien des Sujetaufbaus im Roman Stiller von Max Frisch
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Das eben beschriebene Stilmittel wird bei der zweiten grossen
Beschreibung, der New Yorks, noch haeufiger angewandt. Hier werden die
Vergleiche immer wieder praezieser; so heisst es: "[…] rot, nicht rot wie
Blut, rot wie die Spiegellichter in einem Glas voll roten Weines." (Frisch
1992: 315); "oder […] gelb, aber nicht gelb wie Honig, duenner, gelb wie
Whisky, gruenlich- gelb wie Schwefel […] " (Frisch 1992: 316) neben den
zahlreichen Vergleichen gibt es hier auch Metaphern: Teichen voll
Weissglut; Schwaden von buntem Nebel; Sterne ueber einer Sintflut von Neon-
Limonade; Teppiche, die aber gluehen […] usw. (Frisch 1992: 314)
Die Widerspruechlichkeit dieser Riesenstadt, die der Erzaehler eine
"Orgie der Disharmonie" nennt (Frisch 1992: 315), spiegelt sich auch in
antithetischen Figuren, die zwiespaeltige Gefuehle des Erzaehlers zum
Ausdruck bringen. "Menschen oder Termiten; Sinfonie und Limonade; sinnlich
und leblos zugleich; geistig und albern und gewaltig" (Frisch 1992. 316).
Lyrischer im Ton ist die dritte groessere Landschaftsbeschreibung
dieses Textes, die eine Landschaft in der Nahe von Zurich beinhaltet, wo
Stiller mit dem Staatsanwalt zu Mittag isst und wo er vor vielen Jahren mit
Julika war.
Da heisst es z. B.: "[...] die Zeit streicht wie eine unsichtbare
Gebaerde ueber die Range" (Frisch 1992: 351) oder "[...] eine blaeuliche
Geraeumigkeit fuellt die leeren Wipfel der Baeume, und wieder lodert das
Welken an den Hausmauern empor, klettert das letzte Laub in gluehender
Brunst der Vergaengnis" (Frisch 1992: 352). Hier dominiert nicht die
Beschreibung, sondern die durch die Landschaft ausgeloeste Erinnerung.
"Es muss an mir liegen… Nocheinmal ist alles da, die Wespen in der
Flasche, die Schatten im Kies, die goldene Stille der Vergaengnis, alles
wie verzaubert […]" (Frisch 1992: 349).
In der letzten Beschreibung dominiert nicht Stiller, sondern seine
Erinnerungen an Julika. In den ersten zwei Beschreibungen ist seine
erwuenschte Realitaet vorhanden, er geniesst dabei jede Einzelheit, weil
diese Schilderungen sein Inneres widerspiegeln und mit ihm identisch sind.
Es kann festgestellt werden, dass nicht nur in Opposition 'die Schweiz-
Amerika' sprachliche Mittel zur Entstehung und zum Zusammenspiel der
Realitaeten beitragen. Es gibt konkrete Griffe, die der Autor einsetzt, um
die Mehrschichtigkeit der Textwirklichkeit emporzuheben. Joachim Kaiser z.
B. hat auf die Bedeutung der Klammer aufmerksam gemacht, die typisch fur
Frischs Stil sei. (vgl. Kaiser 1971: 50) Auch im "Stiller" finden sich
zahlreiche Klammern (linguistisch gesehen sind das Parenthesen), so heisst
es zum Beispiel ueber Spanienerlebnisse, wo sich White Gedanken ueber
Stiller macht: "Seine Feuerprobe bestand er (vielmehr: er bestand sie eben
nicht!) vor Toledo, wo die Faschisten sich im Alcazar veschanzt hatten"
(Frisch 1992: 139) Oder: "Natuerlich ritt ich schon im Morgengrauen (in
einem grossen Bogen, damit man mir nicht auf die Spur kam) wieder zu meiner
Grotte" (Frisch 1992: 158)
"Jim traute meinen Schaetzungen nicht, dabei hat die spaetere
Erforschung jener Kavernen (die Touristen erreichen sie heutzutage von
Karlbad her, New Mexico, mit dem Bus) ganz andere Masse ergeben." (Frisch
1992: 163)
Die Klammer ergaenzt und praezisiert, hat einen Realitaetsbezug, aber
sie ironisiert und distanziert auch, weisst auf "fremde Realitaeten" hin, nicht nur in den Protokollen des 2., 4. und 6. Heftes, wenn das
eingeschobene (so sagt er selbst), (so sagt Sibylle) usw. das Erzaehlte
immer wieder vom Erzaehler abrueckt, sondern auch im eigentlichen Tagebuch:
"So (ungefaehr) werde ich zu Frau Julika Stiller-Tschudy sprechen [... ]"
(Frisch 1992: 343).
Es lohnt sich auch auf ein weiteres Aspekt, naemlich auf den Gebrauch von Helvetismen aufmerksam zu werden. Sie treten im Text als Bestandteile einer der vorhandenen Realitaeten auf.
Walter Schenkers ausfuehrliche Untersuchung behandelt diesen
Teilaspekt, naemlich die Rolle, die die schweizerische Mundart in "Stiller"
spielt. Wenn naemlich Stiller in der Rolle Whites seine Schweizer Herkunft
verleugnet, so muss er darauf achten, keine Helvetismen in seine
Aufzeichnungen einfliessen zu lassen. Dies gilt natuerlich vor allem fuer
die Hefte 1, 3 und 5, waehrend die Hefte mit gerader Numerierung ja das
wiedergeben, was ihm andere erzaehlt haben sollen; hier besteht also kein
Grund schweizerische Redewendungen aengstlich zu vermeiden. So gebraucht er
z. B. im 2. Heft den Ausdruck Coiffeur, den Max Frisch nach Schenkers
Auskunft als typisch schweizerisch empfindet. (Schenker 1969: 55) Ebenso
heisst es im 2. Heft: "Kurz darauf erschien die Schwester, um sich zu
erkundigen, ob Frau Julika wirklich nicht zu kalt hatte" (Frisch 1992:
144). Der Ausdruck ich habe kalt statt hochdeutsch mir ist kalt ist
eindeutig schweizerisch. Eine aehnlich schweizerische Wendung ist: "Die
Sonne machte sehr warm" (Frisch 1992: 415), ein Ausdruck, den der
Staatsanwalt in seinem Nachwort benutzt.
Ob es allerdings White wirklich gelingt, das Tagebuch von Helvetismen
freizuhalten, ist fraglich. So schreibt er z. B.: "Es war keine
Kleinigkeit, die steifen Gladiolen einigermassen zu buscheln (Frisch 1992:
250). Das Wort buscheln empfindet auch Frisch nach Schenker als
mundartlich. (Schenker 1969: 91) Je weiter das Tagebuch fortschreitet, desto weniger achtet der Schreiber darauf, keine Helvetismen zu gebrauchen;
als er im 7. Heft seine Vergangenheit durch den Gebrauch der ersten Person
als die seinige anerkennt, schreibt er z. B. wieder Coiffeur (Frisch 1992:
382) oder die Sonne gibt warm (Frisch 1992: 349).
Sprache und Stil im Allgemeinen sind vielmehr von der Problematik und
Struktur des Romans abhaengig, wobei sich die eigentuemliche Situation
ergibt, dass der Titelheld, der sich ja schriftlich und muendlich gut zu
artikulieren versteht, gerade dann verstummt, wenn es um seine
persoenlichste, existenzielle Erfahrung geht. Das kann zugleich als Signal
der Umschaltung der Realitaeten gelten. Je weiter sich Stiller von seinen
existenziellen Erfahrungen entfernt, desto leichter findet er Worte. So zum
Beispiel, wenn er Knobel beredt und farbig seine Abenteuer erzaehlt.
"Das ist es: ich habe keine Sprache fuer die Wirklichkeit", heisst es
unter PS bereits am Ende des 1. Heftes. Und nach Reflexionen ueber die
Frage, wer er in Wirklichkeit ist, schliesst der Tagebuchschreiber diesen
Abschnitt nochmals mit dem Satz: "Ich habe keine Sprache fuer meine
Wirklichkeit! (Frisch 1992: 84) "Jedes Wort ist falsch und wahr, das ist
das Wesen des Worts [...]" (Frisch 1992: 175), steht im 3. Heft, und
schliesslich reflektiert Stiller im 7. Heft im Zusammenhang mit dem Sinn
des Tagebuchs:
"Schreiben ist nicht Kommunikation mit Lesern, auch nicht
Kommunikation mit sich selbst, sondern Kommunikation mit dem
Unaussprechlichen. Je genauer man sich auszusprechen vermochte, um so
reiner erschiene das Unaussprechliche, das heisst die Wirklichkeit, die den
Schreiber bedraengt und bewegt. Wir haben die Sprache, um stumm zu werden.
" (Frisch 1992: 330). "Wer schweigt, ist nicht stumm. (Juergensen 1972: 99)
Wer schweigt, hat nicht einmal eine Ahnung, wer er nicht ist."
Das Verstummen, das in letzter Konsequenz zum Wechsel der
Erzaehlerperspektive fuehrt, setzt ein, nachdem er seine Vergangenheit als
die seine anerkannt und, wenn auch nicht ohne Zwang, seine Identitaet als
Stiller akzeptiert hat. (vgl. Schenker 1969: 116) Vielleicht deutet auch
der Name Stiller auf dieses Verstummen.
Sprache und Stil werden also fuer den Tagebuchschreiber von dem
Verhaeltnis bestimmt, in dem sich das Dargestellte zu seiner persoenlichen
Problematik befindet, Er weicht dort, wo die Sprache die unmittelbare
Erfahrung nicht ausdrueckt, ins Parabolische aus, sucht sich in Geschichten
und Traeumen, in Bildern und Vergleichen auszudruecken.
Schlussfolgerung
Im Rahmen der vorliegenden Diplomarbeit haben wir uns zum Ziel gesetzt das Phaenomen des Zusammenspieles der Textrealitaeten im Roman "Stiller" zu erlaeutern.
Im Zusammenhang mit dem gesetzten Ziel haben wir uns mit folgenden
Aufgaben auseinandergesetzt und sind zu folgenden Schluessen gekommen:
. Der Aufbau des Romans, die Form und Funktion des Tagebuches, deren sich der Autor bedient, beeinflussen die Offenheit des Romans. Die
Autorenposition von Max Frisch, die im Roman zum Ausdruck kommt, bawaegt den Leser zum Nachdenken und macht ihn zu einem
'Mitspieler'. Diese unvollendete literarische Form bewirkt, dass der
Autor dem Leser sein eigenes Bildnis nicht aufzwingt. Die knappe
Information, die der Leser beim Rezeptionsvorgang erhaelt, ergibt
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