Zusammenspiel der Realiatete als eines der Hauptprinzipien des Sujetaufbaus im Roman Stiller von Max Frisch
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Der Tagebuchschreiber erfindet also die Geschichten, um einerseits das
Erwuenschte ans Licht zu bringen, um widerliche Wirklichkeit zu ersetzen
und andererseits um dem Bildnis, dass seine Umwelt von ihm hat, nicht
gerecht zu werden. Er ist auf der Suche nach seiner "Wirklichkeit, denn es
gibt keine Flucht, und was sie mir anbieten, ist Flucht, nicht Freiheit,
Flucht in eine Rolle." (Frisch 1992: 49)
Mit Traeumen verhalte es sich ebenso, in beiden Faellen spielen vor
allem verdraengte Wuensche eine Rolle. Das Erfinden von Geschichten und die
durch Traeume ersetzte Wirklichkeit geben dem Tagebuchschreiber eine
Moeglichkeit sich selbst zwischen dem Fiktiven und Realem zu finden.
2.3 Traeume
Der Roman "Stiller" ist, wie Frisch einmal selbst formuliert hat, "das
Tagebuch eines Gefangenen, der sich selbst entfliehen will" (Bienek 1969:
24) Aber mit Flucht ist nicht nur die Flucht in den Raum gemeint, sondern
eine Flucht vor sich selbst.
Diesen Gedanken wiederspiegeln zwei Traeume von Stiller, die im Rahmen
dieser Behauptung analysiert werden. Der erste ist der sogenannte "Traum
von Militaer". Diesen Traum verursacht eine Fahrt in ein Zeughaus, "um die
soldatische Ausruestung des Verschollenen zu besichtigen" (Frisch 1992:
152)
Im Traum werden vom Tagebuchschreiber die Ereignisse der vergangenen
Woche verarbeitet und so kommen sie dann zum Ausdruck: "Getraeumt: ich
trage den Waffenrock von Stiller, dazu Helm und Gewehr." (Frisch 1992:
174).
Es war tatsaechlich der Fall waehrend des Besuches, dass White gezwungen war die Militaerausruestung des Verschollenen anzuziehen: "Ich komme nicht zu Wort. Auch den Waffenrock ihres Verschollenen habe ich anzuziehen" (Frisch 1992: 154)
"[…] ich sollte meine Unterschrift geben, um den Empfang eines
Gewehres und der neuen Marschschuhe zu bestaetigen." (Frisch 1992: 155)
Nach Freuds These: "Durch den Traum koennen wir manches wissen, was
wir uns weigern, wach zu wissen." (Freud 1945: 66) koennen wir behaupten, dass jeder Traum seinen Sinn hat. Er sieht in dem Traum einen Vermittler
zwischen dem Unterbewusstsein und dem Bewusstsein. Der Mensch aeuЯert nach
Freud in jedem Traum seinen innersten geheimen Willen, er sieht den Traum
als "Hueter des Schlafes".
Uns auf den Freudschen Gedanken stuetzend, koennen wir behaupten, dass das ausschlaggebende in diesem Traum, in dieser Wirklichkeitsbewaeltigung die Tatsache ist, die Stiller spaeter in seinen Aufzeichnungen protokolliert.
"Es ist komisch, nicht einmal im Traum fuehle ich mich als Mitrailleur
Stiller" (Frisch 1992: 174)
Dieser Satz zeugt davon, dass Stiller sogar in Traeumen den Gedanken nicht aufgibt von der Wirklichkeit zu fliehen, ihm aufgezwungene Realitaet loszuwerden und sich selbst ein Fremder zu sein.
Dieser Flucht von der Wirklichkeit und vor allem vor sich selbst liegt das Gefuehl zugrunde, in allem ein Versager zu sein.
" Ich bin kein Mann. Jahrelang habe ich davon getraeumt: ich moechte schiessen, aber es schiesst nicht- ich brauche dir nicht zu sagen, was das heisst, es ist der typische Traum der Impotenz". (Frisch 1992: 269)
Der Traumdeutungstheorie von Sigmund Freud zufolge lassen sich Traeume mit Hilfe ihrer Symbole verstehen. Die letzten sind mehrdeutig und koennen verschiedene Bedeutungen haben.
Zum Beispiel Traeume, die eine Flucht beinhalten, haben im Gegensatz
zu den meisten anderen Traumbildern haeufig ein eindeutig negatives Bild, denn auf der Flucht wird sich kaum jemand wohl fuehlen. Auf der anderen
Seite kann dieses Traumbild auch darauf hindeuten, dass man sein Leben zu
wenig selbst in die Hand nimmt, seine Kraefte unterschaetzt und nicht zu
kaempfen wagt. So unangenehm Fluchttraeume sind, so beinhalten sie doch
stets auch einen positiven Aspekt, da Flucht stets auch eine Loesung
darstellt.
Der Gegenpol zum Fluchtbild ist das Bild des Kampfes, das in Traeumen
in vielen Variationen auftaucht. So kann man davon traeumen, verbal mit
jemandem zu kaempfen, also zu streiten, man kann sich in
Handgreiflichkeiten verwickelt sehen, oder man kann von Krieg traeumen.
Diese Symbolik ist besonders fuer die Interpraetation des Traums von
Stiller wichtig. Normalerweise wird Kampf als ein Konflikt mit sich selbst
gedeutet; man hegt einander widersprechende Gefuehle oder Gedanken. Bei der
Deutung ist auch wichtig, ob der Kampf gewonnen oder verloren wird. Im
ersten Fall koennen durchaus positive Gefuehle geweckt werden, im zweiten
Fall- und das ist gerade der von Stiller- ist die Sache frustrierend und
kann zum Ausloeser fuer Fluchttraeume werden.
Stiller fuehlt sich als einer, der versagt hat, er will eine
Vergangenheit abschuetteln, die fuer ihn voll negativer Erinnerungen ist.
Sein Versagen empfindet er in dreifacher Hinsicht: als Kaempfer, als
Liebender, als Kuenstler. Als Kaempfer hat er in Spanien versagt, wo er als
Freiwilliger am Buergerkrieg teilgenommen hat. Dass er nicht auf die Feinde
geschossen hat, obwohl er den Befehl und die Moeglichkeit dazu hatte, kann
er sich selber nie verzeihen.
Hier werden zwei Realitaeten miteinander konfrontiert:einerseits ist es die Wirklichkeit, die mit dem Spanienerlebnis verbunden ist:
"Ich hatte einen Auftrag, ich hatte mich sogar darum beworben, ich
hatte den Befehl, die Faehre zu bewachen, einen vollkommen klaren Befehl.
Was weiter! Es ging nicht um mich, es ging um tausend andere, um eine
Sache. Ich hatte zu schiessen. Wozu war ich in Spanien? Es war ein Verrat."
(Frisch 1992: 268)
Andererseits ist es die fiktive Realitaet, die der wiederkehrende
Traum vom Gewehr, das nicht losgeht, beinhaltet: "ich moechte schiessen, aber es schiesst nicht." (Frisch 1992: 269)
Von diesem Erlebnis kommt er innerlich nicht los, es wird in einer
Gesellschaft erzaehlt, in der er seine spaetere Frau Julika kennen lernt, und ebenso erzaehlt er es spaeter Sibylle, als sie ihn zum ersten Mal in
seinem Atelier besucht. Waehrend Julika gar nicht versteht, welche
Bedeutung dieses Erlebnis fuer ihn hat, macht ihn Sibylle darauf
aufmerksam, dass er etwas auf sich genommen habe, was seinem Wesen gar
nicht entsprach. "Wer verlangt von dir, dass du ein Kaempfer bist, ein
Krieger, einer, der schiessen kann?"
(Frisch 1992: 269), fragt sie ihn. Sie sieht, dass Stiller sich selbst
ueberfordert hat, dass er schon damals etwas anderes sein wollte, als er
eigentlich war. "Er leidet an der klassischen Minderwertigkeitsangst aus
uebertriebener Anforderung an sich selbst" (Frisch 1992: 252), so
beschreibt der Tagebuchschreiber im Rueckblick den verschollenen Stiller.
Die Niederlage in Spanien, als die Stiller dieses Erlebnis immer wieder
bezeichnet, ist einer der Hauptgruende fuer seine
Minderwertigkeitskomplexe. Natuerlich betreffen diese Komplexe auch den
erotischen Bereich, und den immer wiederkehrenden Traum vom Gewehr, das
nicht losgeht deutet Stiller selbst als "typische(n) Traum der Impotenz"
(Frisch 1992: 269). "Schiessen" ist in diesem Zusammenhang ambivalent-
woertlich Bereitschaft jemandem das Leben zu nehmen, metaphorisch
Bereitschaft jemandem das Leben zu geben. Das Gewehr ist demzufolge in der
Semantisierung durch Stiller woertlich Mordinstrument, metaphorisch
Sexualorgan. Stillers Angst bleibt rein psychologisch. Er will "nicht
geliebt werden"(Frisch 1992: 269) und hat "eigentlich Angst vor Frauen"
(Frisch 1992: 254), doch "immer war da ein Weib " (Frisch 1992: 311). Er
kompensiert die Angst und "erobert mehr, als er zu halten vermag" (Frisch
1992: 254).
Zwar ist Stiller nicht impotent, aber es gelingt ihm nicht, eine
dauerhafte Bindung zu einer Frau zu finden. Die Ehe mit seiner Frau Julika
wird fuer ihn zu einer Probe, an der er scheitert. Seine Schuldgefuehle
werden dadurch verstaerkt, dass Julika krank wird und in ein Sanatorium
nach Davos gehen muss. Zwar hat er inzwischen in Sibylle eine Frau
kennengelernt, deren heitere, offene Art ihm eine weniger problemgeladene
Beziehung und Bindung moeglich erscheinen laesst, jedoch ist sein
Verhaeltnis zu ihr wiederum durch seine Schuldgefuehle gegenueber Julika
belastet, und so wird sein Versagen als Liebender zum weiteren Anlass
seiner Flucht nach Amerika.
Der dritte Punkt, in dem er sich als Versager fuehlt, ist sein Beruf, die Bildhauerei; ob zu Recht oder nicht, kann aus dem Text nicht eindeutig
erschlossen werden. Mr. White schreibt darueber: "Wie begabt er nun
eigentlich war, ihr verschollener Stiller, daruber gingen die Meinungen
offenbar von Anfang an auseinander, und es gab Leute, die ihn nie fuer
einen Kuenstler hielten" (Frisch 1992: 91). Sibylle dagegen ist beim
Blaettern in seinem Skizzenbuch "bestuerzt im Gefuehl, sich in einen
Meister verliebt zu haben" (Frisch 1992: 263) Stiller selbst jedenfalls
glaubt, in der Kunst versagt zu haben, und zerschlaegt ja auch, heimgekehrt, bei einem Lokaltermin alle seine Werke. Allerdings darf man in
dieser Handlung nicht nur eine Auseinandersetzung mit seiner Kunst sehen, er versucht vielmehr ein letztes Mal seine Vergangenheit zu zerschlagen, um
von ihr frei zu werden.
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