Zusammenspiel der Realiatete als eines der Hauptprinzipien des Sujetaufbaus im Roman Stiller von Max Frisch
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Das Zusammenspiel verschiedener Textschichten kommt nicht nur dadurch zum Ausdruck, weil die Elemente des 'Nicht- Textes' in einer Perspektive in den Text eingeschlossen, in einer anderen aus dem Text ausgeschlossen sind, sondern auch dadurch, dass in beiden Faellen ihr Relativitaetsgrad sich von dem des Haupttextes unterscheidet.
Der Zeichencharakter von allem Kuenstlerischen ist dual schon seiner
Natur nach. Einerseits fungiert der Text als eines der Elemente der realen
Welt, das sein eigenes Dasein hat. Andererseits aber ist der Text die
Kreatur des Autors. Gerade in dieser Dualitaet entsteht "das Zusammenspiel
auf dem semantischen Feld 'Wirklichkeit- Fiktion' " (Lotman 1992: 72).
Nach W. P. Rudnev ist die Konstruktion "Text im Text" nicht nur literarische, sondern auch kuenstlerische Erscheinung. Als Beispiel fuehrt der Wissenschaftler die Einfuehrung von Dokumentarbildern in einen Film, oder den mehrschichtigen Sujetaufbau an.
J. M. Levin zum Beispiel untersucht solche literarischen Griffe, wie
Vermischung von Traum und Wirklichkeit, Motive der Doppelgaenger, mit deren
Hilfe der Autor einen mehrschichtigen Sujetaufbau erzielt. In diesen
Konstruktionen bildet das Fabulieren die Oberflaeche und dient der
Entstehung des Haupthemas. Das Haupthema basiert vorwiegend auf formellen
Elementen- auf den Strukturen wie "Text im Text" mit den gebrochenen
Kompositionsrahmen, wo die Grenzen zwischen Realitaeten verzerrt sind.
(vgl. Levin 1981: 55-58)
Indem Autor seine Figuren etwas traeumen, erfinden, luegen oder
erzaehlen laesst, wird der Prozess des Erfindens selbst expliziert. Lotman
(1981) hat diese "Kaestchenkonstruktion" eines Textes mit dem Spiegelmotiv
in der Malerei verglichen.
"Fuer die Bezeichnung dieses Textphaenomens scheint der Terminus
"virtuell" geeignet zu sein. […] Die Wirklichkeit, die sich im Bewusstsein
der Figuren eines literarischen Textes konstituiert, kann als "virtuelle
Wirklichkeit" bezeichnet werden". (?elikova 1998: 224)
Virtuelle Fragmente im Text helfen oft das Verborgene ans Licht zu
bringen, das heisst, sie sind Schluessel zur Intention des Autors. 'Das
Zusammenspiel der Realitaeten' im Rahmen einer fiktionalen Welt ist einer
der verbreitesten Griffe der modernen Literatur. Dieses Zusammenspiel
basiert auf den Wechselbeziehungen zwischen der fiktionalen und virtuellen
Wirklichkeit. Diese zwei Welten koennen sowohl voneinander abhaengig sein
und einander ergaenzen, als auch einander verschlingen. Manchmal dringt das
virtuelle Fragment in die Struktur des Erzaehlens ein und ersetzt sie.
Lotman bezeichnete diese "virtuelle Wirklichkeit" als "doppelter
Code". In diesem Zusammenhang behauptete er, dass diese Erscheinung dazu
fuehrt, dass der Hauptraum des Textes, das heisst seine fiktionale
Wirklichkeit, als 'real' empfunden wird. Daraus folgt, dass der Hauptext
als 'real' und virtuelle Abschnitte darin als 'fiktional' fungieren.
Nachstehend sprechen wir von dem Zusammenspiel der Textrealitaeten, das auf
gegenueberstellung "Wirklichkeit- Fiktion" basiert.
Man kann das mit Recht mit der Opposition "Vorhandenes-Moegliches"
vergleichen. In dieser Hinsicht ist Rolf Kieser zuzustimmen, der gerade die
durch das Tagebuch forcierte "Konfrontation von Dokumentation und reiner
Fiktion, der beiden Zeitbegriffe der linearen Chronologie und der
diachronischen Vergaengnis, der Oeffentlichkeit und des Individuums, des
objektiv erfassbaren Geschehnisses und der subjektiv erlebten Erfahrung, der Ich- und der Er-Position" als Weg sieht, das eigene Wesen [...] in
dialektischer Befragung zu ertasten." (Kieser 1978: 126,) Es ist keine
Konkurrenz, sondern ein notwendiges sich Ergaenzen. Auch wenn "das Faktum
nur geringen Wert [hat], da sich das Ich in ihm nicht angemessen
ausdruecken kann," (edg.: 132) so ist der Bericht, das Protokoll u.ae. von
Bedeutung, weil die Umwelt des Ich widerspiegelt wird.
Die Analyse von diesen Konzepten gibt uns die Moeglichkeit zur
Untersuchung des Aufbaus des Romans vom Standpunkt seiner inneren
Realitaeten aus zu uebergehen.
2. Mehrschichtigkeit der Textwirklichkeit in "Stiller"
Der Roman "Stiller" weist eine aehnliche "Kaestchenstruktur" auf. Das vollzieht sich erstens auf verschiedenen Ebenen der Textwirklichkeit und zweitens traegt die perspektivierte Erzaehlweise dazu bei.
Im Rahmen des vorliegenden Forschungsthemas werden drei Ebenen der
fiktionalen Textwirklichkeit untersucht, weil sie als Elemente des
Zusammenspiels der Realitaeten fungieren. Die Mehrschichtigkeit kommt in
"Stiller" in solchen Textfragmenten wie amerikanische Geschichten, die
Knobel erzaehlt werden, parabolischen Geschichten und Traeumen zum
Ausdruck.
Frisch will die Wirklichkeit nicht nur in Fakten suchen, sondern
gleichwertig in Fiktionen. Indem der Tagebuchschreiber Fiktionen waehlt und
damit spielt, um sich auszudruecken, indem er Geschichten erzaehlt, also
moegliche Beispiele gibt, fuer das, was er erlebt hat, laeuft er nicht
Gefahr, sich selbst im Bildnis festzulegen.
Die Notwendigkeit sich mitzuteilen, kommt in "Stiller" dann zum
Ausdruck, wo der Gefangene dem Waerter Knobel Geschichten erzaehlt.
Diese Geschichten sind Beispiele fuer das obenerwaehnte Phaenomen
"Text im Text" und tragen zur inneren Mehrschichtigkeit des Textganzen bei.
Der Gefangene nennt das Rekonstruieren von Stillers Lebensgeschichte
"Protokollieren" (der schweizerische Text). Damit will er zweifellos seine
Objektivitaet betonen und beweisen, dass er nichts mit "Erinnerung" zu tun
hat. Neben der Lebensgeschichte Stillers spielt auch die Lebensgeschichte
des Gefangenen Mr. White eine Rolle (der amerikanische Text), oder besser
zu sagen sein Leben; denn er hat keine Lebensgeschichte, keine
Vergangenheit, sein Leben besteht eigentlich nur aus den Geschichten, die
er dem interessierten Waerter Knobel zum besten gibt. Er unterscheidet
dabei zwei Arten der Geschichten: einmal die Erzaehlungen von "Tatsachen", zum anderen jene Geschichten, die der Gefangene als "wahre Geschichten"
bezeichnet. Diese Geschichten haben fuer den Gefangenen eine tiefere, symbolische Bedeutung. Nicht die aeussere, mit Fotos belegte Wahrheit ist
fuer ihn wichtig, sondern innere, psychische Realitaet. Gerade im
Fabulieren, im Erfinden von Geschichten, umschreibt der Erzaehler sich
selbst, ohne sich selbst aber zu kennen. Nachtraeglich erst kann er sich im
Erfundenen selbst finden. Fuer Stiller wird schreiben in erster Linie zur
Strategie bei der Erforschung seines Ich. Es ist der Raum zum fabulieren.
Durch seinen Vergleich des Schreibprozesses mit einer sich haeutenden
Schlange, wird dies besonders deutlich: "Man kann sich nicht
niederschreiben, man kann sich nur hдuten" (Frisch 1992: 330). Das
Geschriebene, wird wie die abgelegte Haut der Schlange, zum Abfallprodukt
des Selbstfindungsprozesses.
Fuer Stiller sind die Geschichten deshalb nicht nur der Ausdruck der
eigenen Wirklichkeit, sondern zugleich die Moeglichkeit, sie (die
Wirklichkeit) zu erkennen.
Die Aufzeichnungen sind eine Auseinandersetzung mit Stiller, der er
nicht sein will. In diesen Aufzeichnungen versucht der Gefangene die
Lebensgeschichte Stillers zu rekonstruiren.
Auch in der psychoanalytischen Therapie wird die Lebensgeschichte
eines Menschen rekonstruiert. Freud spricht dabei vom "rueckschreitenden
Charakter der Analyse" und beschreibt diese psychoanalytische Technik als
Mittel, um "Verborgenes ans Licht zu ziehen". (Freud 1910: 112) Diese
Aufzeichnungen kann man mit der Arbeit des Psychoanalyse vergleichen: die
Handlung des Romans besteht in nichts anderem, als in der allmaehlichen
Enthuellung, dass Mr. White wenigstens aeusserlich der verschollene Stiller
ist.
Auf die Motivstruktur dieser Geschichten, vor allem aber auf die
Verflechtung von Fakten und Fiktionen darin moechte ich extra eingehen.
1. Erzaehlte Geschichten
Eine der Knobel erzaehlten Geschichten ist die Geschichte mit der
"kleinen Mulattin". (Frisch 1992: 50) White beschreibt eine seiner
Heldentaten am Rio Grande mit ausgepraegter Wahrhaftigkeit.
"[…] wir hockten gerade am unser Feuer, denn die Abende in der Wueste sind bitterkalt, natuerlich gab es weit und breit kein Holz, wir verbrannten Putzfaeden, was mehr Gestank, als Waerme gibt, und besprachen mit den Schmugglern, wie sie uns in der Nacht ueber die Grenze schmuggeln koennten[…]." (Frisch 1992: 51)
Ploetzlich taucht der Mann von der entfuehrten Mullatin, der eindeutig kriegerisch gestimmt ist, in einer Limousine auf. Und wie schon erwaehnt war, erschiesst White den letzten "auf der Stelle". (Frisch 1992: 52)
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